Rias: Zahl antisemitischer Vorfälle in Bayern verdoppelt
Nach dem Hamas-Terrorangriff auf Israel und dem Beginn des Gaza-Kriegs zeigt die Bilanz der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus: Bayernweit stieg die Zahl antisemitischer Vorfälle stark.


München (dpa/lby) - Nach dem Hamas-Massaker am 7. Oktober 2023 mit Hunderten getöteten Israelis und dem folgenden Gaza-Krieg mit zahlreichen zivilen palästinensischen Opfern ist die Zahl antisemitischer Vorfälle in Bayern stark gestiegen. Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (Rias) Bayern dokumentiert in ihrem Jahresbericht für 2024 im Freistaat 1.515 antisemitische Vorfälle – fast doppelt so viele wie 2023 (761 Fälle). In 80 Prozent aller Vorfälle habe es sich um israelbezogenen Antisemitismus gehandelt, erläutert Rias.
Folgen für jüdisches Leben in Bayern
«2024 war ein einschneidendes Jahr. Wir haben so viele antisemitische Vorfälle wie nie zuvor dokumentieren müssen», sagte Rias-Bayern-Leiterin Annette Seidel-Arpaci. «Neben dem Schock über die Massaker durch palästinensische Terrorgruppen und dem anhaltenden Schmerz über verschleppte und ermordete Geiseln, hat die massenhafte antisemitische Agitation auf den Straßen und im Netz seit dem 7. Oktober viele Jüdinnen und Juden auch in Bayern tief getroffen.» Mangelnde Empathie habe viele weiter verunsichert.
Antisemitismus verstärkt auf Versammlungen
Im vergangenen Jahr zeigte sich Antisemitismus laut Rias verstärkt auf Versammlungen. Die Institution dokumentierte 557 Versammlungen, auf denen es verbal oder schriftlich antisemitische Äußerungen gab. Somit ereigneten sich mehr als ein Drittel aller Vorfälle im Kontext von Versammlungen, von denen sich wiederum der Großteil gegen Israel richtete.
Mit den Schüssen auf das israelische Generalkonsulat und das NS-Dokumentationszentrum in München am 5. September habe es im vergangenen Jahr einen Fall extremer Gewalt gegeben, erläuterte Rias weiter.
Die Zahl der Rias bekanntgewordenen körperlichen Angriffe stieg von acht auf 15, die der gezielten Sachbeschädigungen von 32 auf 50, und die der Massenzuschriften – also etwa Rundmails – von 24 auf 65. Die Zahl der Bedrohungen blieb mit rund 30 etwa auf Vorjahresniveau.
Die allermeisten Vorfälle – insgesamt 1354 – seien als verletzendes Verhalten dokumentiert. Darunter zählt Rias etwa Direktnachrichten, E-Mails oder Versammlungen.
Auch Zahl der Straftaten hoch
«Der 7. Oktober 2023 hat auch in Bayern und Deutschland den Alltag von Jüdinnen und Juden dramatisch belastet», sagte der bayerische Antisemitismusbeauftragte Ludwig Spaenle. Die Anzahl der antisemitischen Straftaten habe in Bayern 2024 bei der sehr hohen Zahl von rund 550 gelegen.
«Dazu kommen Situationen und Erlebnisse, die Jüdinnen und Juden unterhalb der strafrechtsrelevanten Ebene machen müssen. Wir können dieser Entwicklung nicht tatenlos zuschauen, der wehrhafte Rechtsstaat ist zu handeln gefordert», sagte Spaenle.
Hunderte Ermittlungsverfahren allein 2024 eingeleitet
Bayerns Justizminister Georg Eisenreich unterstrich: «Die bayerische Justiz führt den Kampf gegen antisemitisch motivierte Straftaten konsequent. Allein im Jahr 2024 gab es bayernweit 938 neue Ermittlungsverfahren und 237 Verurteilungen.»
In 516 Fällen ermittelten die Staatsanwaltschaften wegen Volksverhetzung und Gewaltdarstellungen, in 236 Fällen wegen des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen. 74 Ermittlungsverfahren wurden demnach wegen Beleidigungs-Straftaten eingeleitet und 21 wegen Körperverletzung und gefährlicher Körperverletzung.
Deutschland und die Welt erlebten seit dem 7. Oktober 2023 die «schlimmste Welle von Antisemitismus seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges», sagte Eisenreich. «Es ist unsere Verantwortung, dass sich Jüdinnen und Juden in Bayern sicher fühlen können.»
Besorgnis in Politik und Gesellschaft
Die Vorsitzende des Verbands jüdischer Studenten in Bayern (VJSB), Jessica Flaster, schilderte die Lage an den Hochschulen. «An bayerischen Universitäten herrscht seit dem 7. Oktober 2023 ein Klima der Angst, das ein unbeschwertes Studium unmöglich macht. Viele jüdische Studierende ziehen es vor, Online-Lernangebote zu nutzen oder ihre jüdische Identität auf dem Campus zu verbergen, da es einem Wagnis gleicht, als jüdisch erkennbar zu sein.»
Sozialministerin Ulrike Scharf (CSU) äußerte sich erschüttert über die Zahlen. «Es ist nicht zu ertragen, dass jüdische Bürgerinnen und Bürger in Deutschland in Angst leben müssen und bedroht werden. Es entsetzt mich, wie tief verwurzelt der Antisemitismus ist und immer offener zutage tritt.» Bayern werde die Jugend- und Präventionsarbeit gegen Antisemitismus stärken und Fachkräfte in ihrer pädagogischen Arbeit unterstützen.
Bayern habe ein Antisemitismus-Problem, kommentierte Cemal Bozoglu von den Landtags-Grünen die Zahlen. Der Schutz jüdischen Lebens und jüdischer Einrichtungen müsse höchste Priorität haben. «Der Kampf gegen den Antisemitismus sollte deshalb als Staatsziel in die bayerische Verfassung aufgenommen werden», forderte er.