Du oder Sie? Warum die Anrede immer kniffliger wird
Deutschland ist lockerer geworden. Krawatte muss nicht mehr sein, und das Duzen erobert immer mehr Lebensbereiche. Bedeutet das mehr Nähe in der Gesellschaft - oder ist ein «Du» heute weniger wert?


Berlin (dpa) - Siezt du noch oder duzt du schon? Ob im Büro, Café, beim Elternabend oder in der Nachbarschaft - die vertrauliche Anrede «Du» scheint in Deutschland immer beliebter zu werden. Ist das positiv und steht für weniger Hierarchie und Spießigkeit? Oder bedeutet ein spontanes «Du» heute weniger Vertraulichkeit als früher? Nicht allein für Sprachwissenschaftler ist die Sache kompliziert - und spannend.
Als das schwedische Möbelhaus Ikea vor rund 20 Jahren begann, auch deutsche Kunden in seinen Werbebotschaften konsequent zu duzen, löste das noch eine kleine Kulturdebatte aus. Ist das respektlos oder sympathisch? Heute gehört die lockere Kundenansprache oft zur Unternehmensstrategie. «Die Hersteller von Seidenkrawatten und Maßanzügen werden weiter siezen. Aber wenn ich Sprayer-Dosen verkaufe, werde ich mit dem "Sie" nicht weit kommen», sagt Horst Simon, Sprachforscher an der Freien Universität Berlin.
Ohne harte Regeln wird die Anrede zum Balanceakt
Doch Simon beobachtet neben Marketing-Trends wie das Duzen in vielen Lebensbereichen in Deutschland zunimmt - und die Wahl der passenden Anrede knifflig geworden ist. Bestellen hippe junge Großstädter in Berlin ihren Hafermilch-Kaffee selbstverständlich per du, weichen andere Gäste auf ein «habt ihr?» aus, um das Siezen des Baristas im coolen Ambiente zu umschiffen. Denn das könnte ja oldschool wirken.
«Es gibt keine harten Regeln mehr», erläutert Simon. «Das bietet uns die Chance, unsere Kommunikation so zu organisieren, wie sie uns angenehm ist.» Das schaffe Gestaltungsmöglichkeiten, verlange aber auch immer wieder neue Entscheidungen. «Schwieriger, aber auch schöner», findet Simon. Er merkt die Unsicherheit bei der Anrede auch, wenn Studierende Mails mit «Hallo Prof» beginnen. Das ist ein Fauxpas. «Sehr geehrter Herr Professor Doktor» ginge Simon aber schon wieder zu weit. Statt richtig oder falsch gilt beim Thema Anrede heute eher: passend oder unpassend, je nach Situation.
Siezen bei der Arbeit kann Schutz bieten
Und im Job? In der neuen Arbeitswelt hat sich das Duzen nach einer repräsentativen Forsa-Umfrage im Auftrag der Jobbörse Jobware Anfang 2023 bisher nicht komplett durchgesetzt, aber es gibt Bewegung. 2018 wollten zwei von drei Angestellten lieber gesiezt werden. Fünf Jahre später legte nur knapp jeder dritte bis vierte Befragte Wert darauf.
Forscher Arnulf Deppermann am Leibniz-Institut für Deutsche Sprache sieht die Anrede in Arbeitsbeziehungen ambivalent. «Positiv beim Duzen ist, dass Barrieren abgebaut werden, und es vielleicht weniger unnötige Ehrfurcht und Ängste gibt, jemanden anzusprechen», sagt er. Auch wenn Hierarchien oft bestehen blieben, trauten sich Arbeitnehmer mehr Initiative zu. Negativ sieht Deppermann eine mögliche Verquickung der Rolle im Job und der privaten Ebene. «Dann macht Duzen ausbeutbar.» Es müsse gar kein böser Wille sein. Doch per du sei es eben einfacher, um einen Gefallen zu bitten oder im Extrem sexuell übergriffig zu werden. Das "Sie" hat eine Lizenz für die Berufsrolle, aber nicht darüber hinaus. «Es kann ein Schutz sein», sagt er Forscher.
Behörden, Banken und Arztpraxen bleiben Bastionen
Die Luft geht dem «Sie» bislang ohnehin nicht aus. Bei einer quantitativen Umfrage des Marktforschungsunternehmens Appinio fanden 2019 nur rund acht Prozent von rund 4.500 Bundesbürgern zwischen 14 und 54 Jahren, dass es abgeschafft gehöre. Fast zwei Drittel verbanden mit dieser Anrede Respekt, Höflichkeit und Zurückhaltung. Bastionen sind weiterhin Behörden, Banken, Arztpraxen oder Gerichte - also Orte, bei denen es um Formales, Finanzen, Fachwissen, Objektivität oder Neutralität geht.
Lange war das private Angebot des «Du» etwas Besonderes. Es gab feste Regeln, wonach es Älteren zustand, die vertrauliche Anrede Jüngeren vorzuschlagen. Das war eine Art Ritterschlag und ein Vertrauensbeweis, nicht selten mit einem Gläschen Sekt oder auch einem Küsschen auf die Wange zelebriert. «Diese Rituale sind völlig weg», sagt FU-Wissenschaftler Simon.
Bruder als neue Netiquette
Nachbarn duzen sich jetzt oft schon beim Einzug, Reise- oder Lerngruppen allen Alters oft von Anfang an. Ist dieses inflationäre «Du» damit weniger wert? «Aus der traditionellen Perspektive und als Marker für soziale Nähe ja», urteilt Simon. Er beobachtet aber, wie seine Studierenden dieses offenkundige Manko mit spielerischen Zusatz-Anreden ausgleichen, die über den üblichen Slang «Alder» und «Digga» hinausgehen. «Sie sagen Bruder, Brudi, Bro oder Herz zueinander. Das sind Nettigkeitsmarker als Ausdruck von Nähe.»
Neu ist dieses «Du-Plus» nicht. Auch das Englische mache feine Unterschiede zwischen der Anrede «Ma'dam» und «Sir» am Bankschalter und «love, darling, mate, sweetie» im Pub, berichtet Simon. Die vertraulichere Anrede Bruder sei im Grunde sogar uralt: Es gab sie schon im Lateinischen als «frater». Durch die Zeiten hat sich das soziale Leben immer auch in Anreden gespiegelt. In der streng hierarchischen Ständegesellschaft wurde Respekt früher nach oben hin durch «ihr» oder «euer Gnaden» ausgedrückt. Nach unten hin aber wurde lange gnadenlos geduzt - mit dem Charakter sozialer Abwertung.
Neue Konventionen bedeuten nicht mehr Nähe
Erst die Idee einer demokratischen Gesellschaft mit weniger sozialen Schranken eröffnete dem Duzen eine neue Dimension. Englisch als Geschäftssprache bei großen Firmen, das Internet und Medien haben diesen Trend verstärkt und beschleunigt.
«Insgesamt ist die Gesellschaft in Deutschland auf vielen Ebenen informeller geworden. Es gibt ja auch keinen Krawattenzwang mehr. Sprache ist ein Baustein dieser Entwicklung», sagt Linguist Simon. Pauschal rücke die Gesellschaft dadurch aber nicht näher zusammen. Die Leute seien deshalb nicht freundlicher zueinander. «Es ist nur eine andere Konvention. Was da mitschwingt, ist, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der Jugendlichkeit, Sportlichkeit und "wir sind alle Kumpels" als wichtig erachtet wird.»
Sprachforscher Deppermann sieht Deutschland in einer Übergangsphase, in der die Richtung unklar ist. Wird es mehr Lockerung geben - oder werden die sozialen Grenzen schärfer gezogen? Deppermann sieht im Moment auch eine Sehnsucht nach Orientierungssicherheit und traditionellen Formen. «Eine Rückwärtsbewegung ist nicht ausgeschlossen», ergänzt er. Sprache sei ein großer Teil von Identität - «und die Anrede war immer schon ein Kampfplatz».