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Verfassungsschutzbericht: Deutlich mehr Extremisten im Blick

Gewaltbereite Salafisten, Reichsbürger, Rechtsextremisten und Saboteure im Dienste Russlands - der Inlandsgeheimdienst hat alle Hände voll zu tun. Große Sorgen bereiten ihm radikalisierte Jugendliche.

ANTENNE BAYERN ANTENNE BAYERN GmbH & Co. KG
Vorstellung des Verfassungsschutzberichtes 2024 Kay Nietfeld/dpa

Berlin (dpa) - Der Verfassungsschutz hat 2024 deutlich mehr Extremisten und Spione im Blick gehabt als in den Jahren zuvor. Das hat mit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine zu tun. Es hängt aber auch mit der Eskalation in Nahost sowie mit dem Erstarken der AfD zusammen. 

Wie aus dem Jahresbericht des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) hervorgeht, haben sowohl Rechtsextremisten als auch «Reichsbürger» und linksextremistische Gruppen aktuell mehr Zulauf. Eine gefährliche Trendumkehr beobachten die Verfassungsschützer in der islamistischen Szene.

So viele Rechtsextremisten wie vor 25 Jahren

Dass der Inlandsgeheimdienst binnen eines Jahres einen Anstieg des Rechtsextremismuspotenzials um rund 23 Prozent auf 50.250 Personen beobachtet, hat auch, aber nicht nur mit dem Mitgliederzuwachs bei der AfD zu tun. Laut dem Jahresbericht, den Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) und BfV-Vizepräsident Sinan Selen gemeinsam in Berlin vorgestellt haben, wurden im vergangenen Jahr 20.000 Mitglieder der AfD dem rechtsextremistischen Personenpotenzial zugeordnet. 

Im Jahr 2024 hatte der Verfassungsschutz die AfD als Verdachtsfall beobachtet. Die Einstufung der Partei als gesichert rechtsextremistische Bestrebung in diesem Frühjahr ist Gegenstand einer juristischen Auseinandersetzung. Der Verfassungsschutz hat hier eine sogenannte Stillhaltezusage abgegeben - bis zu einer Entscheidung des Kölner Verwaltungsgerichts.

Die Partei hatte nach eigenen Angaben im November 50.000 Mitglieder. Im Verfassungsschutzbericht heißt es: «Die AfD stellt mit Blick auf ihre politischen und gesellschaftlichen Wirkungen und die Mitgliederzahlen den maßgebenden Akteur innerhalb des rechtsextremistischen beziehungsweise rechtsextremismusverdächtigen Parteienspektrums dar.» Die Partei habe im rechtsextremistischen Spektrum eine «Scharnierfunktion» sagt Selen. Von der Partei würden bestimmte Themen aufgegriffen und «ins Sagbare überführt». Dobrindt sagt: «Es ist ja aus meiner Sicht deutlich, dass auch durch die AfD eine Stimmungslage und eine Situation erzeugt wird, die der Polarisierung unserer Gesellschaft Vorschub leistet.»

Über 15.000 gewaltorientierte Rechtsextremisten

Im Jahr 2000 lag die Zahl der vom Verfassungsschutz erfassten Rechtsextremisten bei 50.900 Personen. Der Anteil der Rechtsextremisten, die als gewaltorientiert galten, war damals allerdings geringer als heute.

Die Zahl der Rechtsextremisten, die vom Verfassungsschutz als gewaltorientiert eingeschätzt werden, stieg im vergangenen Jahr erneut an - um 800 Personen - auf nunmehr 15.300.

Dass sich zunehmend Kinder und Jugendliche radikalisieren, die dann auch relativ rasch bereit sind, zu handeln und sogar Gewalt auszuüben, beobachtet der Verfassungsschutz laut Selen sowohl im Rechtsextremismus als auch im Islamismus. 

Einen Aufwuchs sieht der Verfassungsschutz insgesamt auch bei den sogenannten «Reichsbürgern» und Selbstverwaltern. Hier schwoll das Personenpotenzial dem Bericht zufolge um 1.000 Menschen auf rund 26.000 Menschen an. «Reichsbürger» erkennen die Bundesrepublik Deutschland nicht als Staat an. Sie erkennen auch demokratische und rechtsstaatliche Strukturen wie Parlament, Gesetze oder Gerichte nicht an. Steuern, Sozialabgaben oder Bußgelder wollen sie nicht zahlen.

Leicht abgenommen hat im vergangenen Jahr die Zahl der Menschen, die der Verfassungsschutz als «verfassungsschutzrelevante Delegitimierer des Staates» einstuft. Dieser Kategorie wurden 2024 noch rund 1.500 Menschen zugerechnet, nach 1.600 «Delegitimierern» im Jahr zuvor.

Gefährliche Trendumkehr bei den Islamisten

Nach einem leichten Rückgang in den Jahren zuvor sieht der Verfassungsschutz aktuell wieder einen leichten Zuwachs bei islamistischen Gruppierungen. Das Islamismuspotenzial stieg um knapp vier Prozent auf 28.280 Personen an. 

Das gewaltorientierte islamistische Personenpotenzial, das in diesem Jahresbericht erstmals ausgewiesen wird, schätzt die Sicherheitsbehörde auf 9.540 Personen. 

Brandbeschleuniger Nahost-Konflikt

Sowohl in der islamistischen Szene als auch im Bereich des «auslandsbezogenen Extremismus» erleichterte das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung im Gazastreifen den verschiedenen Gruppierungen die Anwerbung neuer Anhänger. In der rechten Szene beobachtete der Verfassungsschutz eine Instrumentalisierung des Nahost-Konflikts zur Verbreitung «migrationsfeindlicher und antisemitischer Positionen». 

Die linke Szene sei in der Frage gespalten, stellt der Inlandsgeheimdienst fest. In seinem Jahresbericht heißt es: «Autonome Linksextremisten vertraten weniger öffentlichkeitswirksam überwiegend proisraelische Positionen, antiimperialistische und dogmatische Linksextremisten deutlicher sichtbar und in der Mehrzahl propalästinensische Positionen.» 

Mehr Linksextremisten

Die Zahl der Linksextremisten wuchs zwar 2024 laut BfV von 37.000 auf etwa 38.000 extremistische Linke. Bei den als gewaltorientiert eingeschätzten Linksextremisten blieb das Personenpotenzial mit 11.200 Extremisten auf dem Niveau des Vorjahres. 

Der Inlandsgeheimdienst warnt: «Bei ungehindertem Fortgang der Radikalisierung einzelner Personen oder Strukturen könnte in Deutschland ein neuer Linksterrorismus entstehen, der sich insbesondere gegen als solche ausgemachte "Faschisten" richten dürfte, aber auch zu weiterer Gewalt gegen Staat und Polizei führen könnte.»

Russische Spionage und Sabotage 

Die Hinweise auf mögliche Sabotagevorfälle haben 2024 laut Verfassungsschutz deutlich zugenommen. Insgesamt seien in Europa vermehrt Vorfälle wie versuchte oder erfolgte Brandstiftung, Vandalismus, Ausspähungs- sowie Propagandaaktivitäten aufgefallen, aufgetreten, die auf russische Nachrichtendienste zurückzuführen sind oder sein könnten. 

Umgesetzt werden die Aktivitäten den Angaben zufolge insbesondere von sogenannten Low-Level-Agenten. Diese umgangssprachlich auch als «Wegwerfagenten» bezeichneten Handlager sind keine geschulten Geheimdienstmitarbeiter, sondern werden für bestimmte Operationen angeheuert.

© dpa-infocom, dpa:250610-930-649764/3